4. Januar 2013

Dritter Tag: Ich als Froschfigur oder: die hübschen Männer in Orange.

Mein dritter Tag begann um 08:15 Uhr und so machte ich mich auf den Weg zur Klinik-Schule, welche dieses Mal als erste auf meinem „Stundenplan“ vermerkt war. Diesmal um meine Französisch-Kenntnisse zum Besten zu geben, die leider genauso dürftig vorhanden sind wie meine mathematischen.

Da ich mich bereits daran gewöhnt hatte mich von einer kompetenten Person des Hauses von Ort zu Ort manövrieren zu lassen, stand ich plötzlich etwas alleingelassen den Ergotherapeuten im Weg und wusste nicht wohin mit mir. Laut Plan wurde ich jetzt in der Physiomotorik-Gruppe gebraucht, doch wusste ich nicht im Geringsten wo diese zu orten war bzw. wo sie stattfinden sollte. Doch mit der Hilfe eines netten, jungen Mannes, der aussah wie Albert Einstein in jungen Jahren, fand ich schließlich die Person, welche ursprünglich eigentlich mich finden sollte und nicht umgekehrt. Die Physiomotorik Gruppe stellte sich letztlich als ein Sporteinheit für Kleinkinder heraus. Im Zeitraum einer Dreiviertelstunde missbrauchte man mich mehrfach als hüpfender Frosch,  „armer kranker Bär“ mit Schmerzen und als Suchmaschine für das Versteckspiel. Ich muss zugeben, dass ich von dieser Lerneinheit wenig begeistert war.

Als nächstes erwartete mich wieder Kind 2*, welches ich bereits am Montag kennenlernen durfte. Nachdem man den HAWIK-Test erfolgreich beendet hatte, wollte die Neuropsychologin nun die Aufmerksamkeit des Kinds untersuchen, um eventuell eine mögliche Lernbehinderung diagnostizieren zu können. Das dafür notwendige Testverfahren war auf einem Laptop abgespeichert und beanspruchte höchste Konzentration seitens des Patienten. Auch die geteilte Aufmerksamkeit wurde untersucht, welche den frontalen Bereich des Gehirns besonders beanspruchte.
Test1: Sich auf die Mitte des Bildschirm konzentrieren und beim Aufflackern eines weißen Kreuzes sofort die Taste drücken.
Test2 (für geteilte Aufmerksamkeit): Sich mit den Augen auf den Bildschirm konzentrieren und nur dann drücken, wenn auf einem Raster mit Kreuzen, die Kreuze ein Quadrat ergeben. Gleichzeitig auf die hohen und tiefen Töne achten. Bei zwei aufeinanderfolgenden gleichen Tönen sofort die Taste drücken.
Auch Kind 1* sollte ich heute wiedertreffen. Nachdem man nun eindeutig vermuten konnte, dass kein Konzentrations- oder Gedächtnisschwäche vorlag, verdächtige man nun die Familienverhältnisse, welche das Kind nun mithilfe von Figuren nachstellen sollte. Verdächtig war, dass er sich anscheinend unter Druck gesetzt fühlte und teilweise bedrückt wirkte. Zudem ließ ihm das Wohnverhältnis der Familie (ein Raum und ein Tisch für ihn und seine Schwester) anscheinend keine Privatsphäre, was für einen Jungen seines Alters eigentlich sehr wichtig ist. Das Ergebnis des Befragungsbogens zu einer möglichen Depression ließ deutlich werden wie sehr er noch an dem Tod seines Opas nagte, der für ihn nach der Trennung seiner Eltern eine Art Vaterfigur darstellte, und welcher besagte, dass man bei ihm durchaus eine leichte Depression feststellen konnte.

Nach dieser interessanten Therapiestunden stand ich wieder alleine da, hatte ich doch Hunger und wollte deswegen zum Personalessenraum. Auf der Suche dorthin verirrte ich mich ausversehen in die Station der Physiotherapeuten. Was ich da sah, würde wahrscheinlich jedes Frauenherz höher schlagen lassen: attraktive, junge Männer in Orange, im heiratsfähigen und unverbrauchten Alter. Betört von meinem plötzlich attraktiv gewordenen Umfeld, versuchte ich mich in ein verzweifeltes Reh hineinzuversetzen und gleichzeitig auch so zu schauen. Und tatsächlich, einer der orangefarbenen Schönlinge nahm meinen affektierten Hilfeschrei war und gab mir eine Kurzbeschreibung des Weges, die ich allerdings nur teilweise mitbekam, da ich in Gedanken unentwegt damit beschäftigt war die sinnlichen Kurven seines Mundes nachzufahren.

Nachdem meine Orientierung dann doch ihren ersten Erfolg zählen konnte, machte ich mich mit vollen Magen auf den Weg zur Musiktherapie. In der ersten Stunden wurden hauptsächlich optimistische und motivierende Lieder gesungen, die ein Mensch zuvor geschrieben haben muss als er durch eine rosarote Brille die Welt betrachtete und sich einbildete jeder schlechte Tag hätte auch etwas Gutes. Doch das ist nun mal der Sinn einer Musiktherapie; dem Patienten die Lust am Leben zu vermitteln und mit Musik näherzubringen. Die zweite Stunde war dagegen durchaus interessanter. Ich bekam Besuch von zwei sehr jungen Patienten im wachkomatösen Zustand und konnte mir zunächst gar nicht vorstellen wie solch eine Form der Therapie hier weiterhelfen sollte. Das Wachkoma, auch apallisches Syndrom genannt, ist ein Zustand, in dem der Mensch zwar wach ist aber diesen Zustand und sein Ich nicht wahrnimmt. Es wäre jedoch falsch zu behaupten, der Körper könne demnach auf nichts mehr reagieren. Das Gegenteil wurde mir bewiesen: Die kleinen Füße der Patienten wurden auf eine Trommel gelegt, welcher zur gleichen Zeit gespielt wurde. Sofort verlangsamte sich die Atmung des einen und die Atemzüge wurden tiefer; seine Augenlider waren nun schlossen – ein Zeichen der körperlichen Entspannung. Der andere zeigte wiederum mehr körperliche Regungen bei helleren Klängen, z.B. bei dem Ton von klirrenden Klangstäben, der er erstaunlicherweise immer wieder anstieß, wenn der Klang am Verstummen war.

Nach diesen interessanten Eindrücken, ging ich wieder die Treppen hoch, Richtung Praktikantenzimmer. Auf der fünften Stufe hielt ich jedoch kurz inne und überlegte, ob ich mich nicht nochmal zu der Station der hübschen Physios verlaufen sollte –natürlich ganz ungewollt. Allerdings besann ich mich dann doch eines Besseres und schämte mich beinahe für diesen kindischen und pubertären Gedanken. Was mich allerdings nicht vom Träumen abhielt,…

* Aufgrund der Schweigepflicht ist es mir nicht gestattet den Namen des Kindes und seine Daten zu erwähnen.