10. April 2010

Das Treffen

Schnellen Schrittes überquerte ich die Straße. Ich hielt den Blick gesenkt, hörte nur gedämpft das Brummen der haltenden Autos und nahm nur vage die grellen Scheinwerfer wahr. Ich verkörperte wahrscheinlich den Eindruck eines viel beschäftigten Mannes in Eile, ein Ziel vor dem geistigen Auge, für andere nicht sichtbar und doch zu erahnen, erpicht, dies schnell zu erreichen. Doch wer so denkt, täuscht sich. Ich hatte keineswegs irgendein Ziel vor irgendeinem Auge. Vielmehr war da eine Leere, eine drückende Leere ohne jeden erdenklichen Sinn. Ich dachte an meinesgleichen, welche jetzt in ihren beheizten Kleinwagen saßen und sich auf den Weg zu ihren Familien begaben. Wahrscheinlich freuten sie sich auf ein warmes Abendessen, zubereitet von einer fürsorglichen Frau, die Liebe zu verschenken wusste und Kinder, die sich davon nährten, dadurch wuchsen und gediehen. Doch was wartete auf mich? Plötzlich stand ich auf dem Marktplatz. Rings um mich die nächtliche Schwärze, bis auf die warmen Lichttupfer der Straßenlaternen, welche mich umgaben als würden sie in jeder Sekunde auf mich einstürmen wollen. Meine Schritte hallten auf dem Platz wider und hinterließen jedes Mal einen Schmutzfleck in der Stille. Der Himmel war sternenklar und eine angenehme Brise wehte. Einen Moment lang hielt ich inne und genoss den Augenblick des Alleinseins. Doch dieser wurde unterbrochen. Ich stutzte und runzelte die Stirn. Unter einer der vielen kampfbereiten Laternen erblickte ich eine Gestalt. Ich kam zu der Annahme, dass es eine Frau sein müsse, aufgrund der wohl passenden Proportionen und des auffallend orangefarbenen Kleides. Fließend, wie ein Wasserfall, fiel es an ihr herab und betonte jegliche Weiblichkeit, welche es zu zeigen bedurfte. Für einen unpassenden Moment fand ich sogar, dass ihr dieses ausgesprochen gut stand. Bis ich bemerkte, dass die gegenwärtigen Wetterumstände mit ihrem Kleid nicht so recht harmonieren wollten. Meine Gänsehaut war ein blühender Beweis dafür, obwohl ich behangen mit Pullovern war, welche auch noch unerhört kratzten. Sie wirkte fehl am Platz. Ich konnte ihre Unsicherheit förmlich riechen und war gefangen in einer unangenehmen Unentschlossenheit. Was sollte ich tun? Vielleicht war es ja doch nur eine Hure, die vergeblich versuchte ihren Körper an liebesbedürftige Männer zu verkaufen. Aber doch nicht mit einem orangefarbenen Kleid. Wo waren der kurze Rock und die hohen Lackstiefel? Nein. Ich verschob diesen Gedanken und ließ meine Augen stattdessen über das scheinbar hübsche Gesicht der jungen Frau gleiten. Alt konnte sie nicht sein. Große Augen und braune Haare. Letztere trug sie offen. Wahrscheinlich hatte sie eine Party besucht oder eine gute Freundin und befand sich soeben auf dem Heimweg. So wie ich. Doch wieso lief sie dann nicht, sondern stand einsam und verlassen unter dieser Laterne? Nächte konnten gefährlich sein, dachte ich und zog meinen Schal enger. Wieso stand sie hier, inmitten der Kälte. Wieso stand ich eigentlich hier. Erhoffte ich mir irgendetwas? Dachte ich womöglich, sie würde mich ansprechen? Zögernd schaute ich auf meine Uhr und musste feststellen, dass die Nachrichten schon längst angefangen hatten. Ja, sie waren sogar schon was zuende. Vielleicht schaffte ich es noch rechtzeitig zum Tatort. Mit einem letzten unsicheren Blick auf die merkwürdige Frau überquerte ich den Rest des Marktplatzes und bog in eine Seitenstraße ab. Hinein in die nächtliche Bedrängnis der Gassen. Hinein in die Einsamkeit, nach Hause.